Die Gotik, vom italienischen Renaissancetheoretiker Giorgio Vasari als Begriff geprägt, begann Mitte des 12. Jahrhunderts in Frankreich, im umliegenden Gebiet der Ile-de-France, ihren Eroberungszug durch ganz Europa. Die Gotik folgte der schwermütigen Romanik mit ihren dicken Mauern und kleinen Fenstern und brachte eine vollkommen neue Sakralarchitektur mit, die insbesondere das Licht in den Mittelpunkt stellte. In Italien wurde ein eigener gotischer Stil entwickelt, aus den dann später die Renaissance eingeleitet wird. Um die italienische Gotik zu verstehen, habe ich vorerst die Gotik in Frankreich, England und Deutschland beschrieben, um anschließend die Gotik in Italien zu vertiefen.

Die gotische Fassade des Doms in Orvieto
Die gotische Fassade des Doms in Orvieto

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Die Glasmalerei triumphierte

Die Wandmalerei, die in der Romanik noch blühte, wich ab der Frühgotik Mitte des 12. Jahrhunderts immer mehr der Glasmalerei, die in der Hochgotik im 13. Jahrhundert und in der Spätgotik im 14. und 15. Jahrhundert in herrlichen, riesigen bunten Fenstern gipfelte.
Ihre reinste Ausprägung fand die Gotik im französischen Kathedralbau. Spitzbogen, große Maßwerkfenster mit Wimpergen, Fensterrosen, Bündelpfeiler, Dienste und Streben, Kreuzrippengewölbe, blattartig verzierte Knollen der Krabben als Schmuckelemente, imposante Tympana und Archivolte mit reicher plastischer Verzierung, filigrane, spitze Türmchen der Fialen sowie speziell in der französischen Gotik die charakteristische Zweiturmfassade mit der Königsgalerie waren die Neuerungen der Gotik.

Gotische Glasmalerei in einer Kirche am Comersee
Gotische Glasmalerei in einer Kirche am Comersee

Gotik war Inbegriff schlechten Geschmacks

Für Georgio Vasari war die Gotik jedoch der Inbegriff des schlechten Geschmacks. Wie nur konnten die barbarischen Goten eine solch „unmögliche“ Architektur als schön empfinden, die obendrein noch durch die Völkerwanderung der Goten die italienische antike Kunst zu zerstören suchte. Die Gotik als Begriff war also negativ angehaucht. Erst im 18. Jahrhundert drehte sich das Blatt allmählich.

Das Licht gewann an Bedeutung

Das Licht steht in der Gotik im Vordergrund und nimmt im Verlauf der gotischen Stilphasen immer mehr an Bedeutung zu. Die Sakralbauten werden zunehmend durchlichtet und dabei immer weiter in die Höhe gebaut. Es besteht im Laufe der gotischen Zeitepoche ein regelrechter Drang und Wettlauf nach dem höchsten Bau, der im Einsturz der Kathedrale von Beauvais gipfelte. Dabei werden architektonische schwere Formen, insbesondere aus der Romanik, durch leichte platzsparende Formen ausgetauscht, sodass immer mehr Fenster mit leuchtend bunten Farben Platz finden können. Je mehr Licht ein Sakralbau einfangen kann, desto besser.

In Anbetracht gotischer Kathedralen beschrieb Thomas von Aquin (1224/1225-1274) die Schönheit in seinem Hauptwerk Summa theologiae um 1250 wie folgt:

„Für die Schönheit (pulchritudo) sind drei Dinge erforderlich. Erstens die Vollständigkeit oder Vollkommenheit (integritas sive perfectio); was nämlich unvollständig ist, ist häßlich (lurpia). Und die rechte Proportion (debila proportio) oder Harmonie (consonantia). Und schließlich die Klarheit (claritas): denn die [Dinge], welche glänzende Farbe haben, werden schön zu sein genannt.“

Thomas von Aquin in Summa theologiae

Farbe war im Mittelalter wichtig

Im Mittelalter war die Farbe von äußerster Wichtigkeit. Sie wird im Kunsterleben durch Licht sichtbar und dieses kommt wiederum von Gott. Leuchtend bunte Farbfenster mit ihrem Glanz und ihrer immensen Leuchtkraft ersetzen zunehmend Gemälde. Sie können anders als Gemälde den Raum mit Farbe und Licht erfüllen und damit eine höhere Wirkung hinsichtlich der Schönheit bewirken.

Typisch Gotik: Bild "Maestà" von Duccio di Boninsegna
Die Farbe Gold dominierte noch in der Gotik: Bild „Maestà“ von Duccio di Boninsegna

Das Schöne und die Schönheit im Mittelalter

Das Denken über das Schöne und die Schönheit wird im Mittelalter durch zwei Theorien bestimmt: einmal durch die Philosophen und Kirchenlehrer Platon (428/427 v. Chr.-348/347 v. Chr.), Plotin (unbekannt-270 n.Chr.) und Augustinus (354 n. Chr.-430 n. Chr.), und zum andern durch Dionysios Areopagites, dem zweiten Bischof von Athen.

Nach Platons „Symposion“ erweckt die Schönheit Begierde und Liebe, denn die Seele strebt naturgemäß nach dem göttlichen Schönen, nach reinen Ideen und der Vernunft. Nach Dionysios Areopagites steht wie bei Augustinus die Harmonie (consonantia) und die Klarheit (claritas) bei der Betrachtung der Schönheit im Vordergrund. Die Schönheit wird als Attribut Gottes dargestellt, sie soll wie bei Plotin nicht nur in irdischer Form betrachtet werden, sondern der Mensch soll auch nach der höchsten Schönheit, dem Gott, streben.

Die Wahrnehmung des Auges in der Gotik

Im Mittelalter, genau genommen im 12. und 13. Jahrhundert, existierten zudem zwei verschiedene Theorien hinsichtlich der optischen Wahrnehmung des Auges: die Extromission, die auf Augustinus zurückgeht, und die Intromission, die auf Aristoteles zurückgeht.

Nach der Extromissionstheorie von Augustinus wird ein Gegenstand erst sichtbar, wenn das menschliche Auge Lichtstrahlen aussendet und diesen beleuchtet. Nach der Intromissionstheorie von Aristoteles hingegen ist es andersherum. Der Gegenstand sendet Lichtstrahlen aus, die durch gerade Strahlen in das Auge gelangen.

Im 13. Jahrhundert setzte sich die Theorie von Aristoteles durch. Die Menschheit glaubte, dass erst das Sonnenlicht die Farbe sichtbar macht und das Sonnenlicht kommt von Gott. Dieses von Gott kommende Sonnenlicht gelangt in den menschlichen Körper durch die Augen und zwar durch die Farberscheinung.

Erst die Sonne lässt also die farbigen Glasfenster in den Kathedralen wirken. So wie sie die Fenster zum Wirken bringt, so kann auch die Seele unter dem Einfluss göttlicher Erleuchtung ihre naturgemäßen guten Eigenschaften entfalten.

So beschreibt auch ein Chronist die besondere Wirkung der Fenster der Kirche Sainte-Benigne in Dijon um 1060, bei der das Oratorium „durch den hellen Glanz von sechs Fenstern erleuchtet (senarum inlustratur splendore fenestrarum)“ wird und zum Obergeschoss der Rotunde: „es strahlt durch elf Glasfenster (undenisque irradiatur vitreis)“ und „es erstrahlt in außerordentlicher Klarheit durch die Fenster, die von allen Seiten und von oben vom weiten Himmel Licht hineinströmen lassen“ (fenestris undique ac desuper patulo caelo lumen infundentibus micat eximia claritate).

Insbesondere die Klarheit, die claritas, hat den Chronisten beeindruckt. Der Innenraum der Kirche wird mit Licht, das vom Himmel kommt und durch die Fenster scheint, mit Glanz erstrahlt (micat, inlustratur, irradiatur).

Viele Chronisten des Mittelalters, unter anderem auch Abt Suger von Saint-Denis, beschreiben die Mannigfaltigkeit der Farbe, die varietas, die sich durch die Glasfenster erst entfalten kann. Durch das Sonnenlicht kann das Bunte erst zur Wirkung gebracht werden und den Kircheninnenraum mit Klarheit (claritas) und Schönheit (pulchritudo) ausschmücken.

Suger beschreibt in seinen Versen der Speculum virginum, seiner Lehrschrift, auch die Räumlichkeiten der Kathedrale in Saint-Denis, unter anderem auch das Westportal, bei dem er sich wie folgt ausgedrückt hat:

„[…] Edel strahlt (claret) das Werk, doch das Werk, das edel strahlt, soll die Herzen erhellen (clarificet), so dass sie durch wahre Lichter (per lumina vera) zu dem wahren Licht gelangen, wo Christus die wahre Tür ist. Welcher Art dieses [wahre Licht] innen ist, das gibt die goldene Tür hiermit an. Der schwerfällige Geist erhebt sich mit Hilfe des Materiellen zum Wahren […].“

Suger in Speculum virginum

Die Wörter clarus, clarificare und clarere

Unschwer erkennbar ist, dass die Wörter clarus, clarificare und clarere eine herausgehobene Bedeutung beim Verweis vom Materiellen zum Immateriellen (de materialibus ad immaterialia excitans) haben. Dies bedeutet also, dass das Klare und Glänzende, das durch die Glasfenster dringt, auf das wahre Licht, auf Christus, verweist.

Erst jetzt mit dem Verständnis über die Rolle des Lichts im Mittelalter können wir die Absichten der Bauherren der gotischen Kathedralen und ihren Drang nach einem immer mehr lichtdurchfluteten Kirchenraum verstehen.

Die Kathedrale von Saint Denis

Den Anfang macht die Kathedrale von Saint Denis (Basilique de Saint-Denis) mit ihren ersten gotischen Architekturformen, dem Gothique primitif, die ursprünglich in merowingischer Zeit errichtet wurde und eine Umgestaltung des Westchores etwa 1135 – 40 und des Chores 1140 – 45 erhielt. Sie gilt als eine der ersten Gründungsbauten der Gotik und wurde zur Inspirationsquelle für weitere französische Sakralbauten. Unter Abt Suger (1081-1151) erhielt sie 1140 das erste spitzbogige Kreuzrippengewölbe im Umgangschor. Nach der frühgotischen Zeit und nach dem Tod von Suger erhält die Abtei ihr Langhaus erst von 1231 bis 1281 im hochgotischen Stil, von 1231 bis 1245 werden die Pfeiler des Binnenchores ausgetauscht. Es werden Maßwerkfenster im Obergaden eingesetzt. Zudem wird das Triforium durchlichtet und das Querhaus erhält von 1236 bis 1238 je ein Rosenfenster im Süden und im Norden.

Die frühgotischen typischen Merkmale der Sakralbauten sind insbesondere Emporenbasiliken, runde Arkadensäulen mit überwiegend korinthischen Kapitellen, Binnenchöre, spitzbogige Kreuzrippengewölbe sowie rund schließende Chorumgänge und Kapellen.

Die Bögen von Portalen und Fenstern weisen nicht selten noch eine runde Öffnung auf. Nicht alle Fenster- und Portalöffnungen sind spitzbogig. Bis etwa 1160 sind die Wandaufrisse der Mittelschiffe von Basiliken noch in die drei Bereiche Arkade, Empore und Obergade gegliedert.

Erst ab etwa 1160 werden zwischen der Galerie und den Obergaden Triforien eingeschoben.

Die gotischen Formen prägen sich aus

Die gotischen klassischen Formen nehmen also im Zuge der nachfolgenden Jahre immer weiter zu und werden immer ausgeprägter. Die Kathedrale Notre-Dame von Chartres (Cathédrale Notre-Dame de Chartres) kann als das Sinnbild und „Urform“ bzw. als Ausgangsbau der klassischen gotischen Kathedralen im Gothique classique, der zweiten gotischen Phase Frankreichs, angesehen werden.

Wegweisend ist das in die Mitte rückende dreischiffige schmalere Querhaus der Kathedrale von Chartres, das sich an das ebenso dreischiffige Langhaus anschließt. An dieses wiederum schließt die im Jahr 1150 entstandene doppeltürmige Westfassade mit ihrem Königsportal an, die sich durch ihre Statuen, die zudem die ältesten erhaltenen gotischen Statuen der Kunstgeschichte darstellen, auszeichnet. Die Portalanlage, die als die erste erhaltene Portalanlage der Gotik gilt, weist auf den Türsturzen und den Archivolten, an den Seiten der Gewände und im Tympanon beeindruckende Skulpturen auf.

Chartres, das nie zerstört worden war, konnte entgegen vielen anderen Kathedralen im Bildersturm der Hugenotten oder Französischen Revolution, seine Portalfiguren und sein Portalschmuck sowie 176 Fenster fast unversehrt erhalten. Daher gilt die Kathedrale von Chartres als einmalige Möglichkeit, das Flair und den Anreiz der Hochgotik intensiv und unverfälscht zu erleben.

Die Gothique classique

Unglücklicherweise wird in Deutschland die klassische Gotik in Frankreich, die die zweite Phase der Gotik im Land darstellt und als Gothique classique bezeichnet wird, mit „Hochgotik“ übersetzt. Allerdings stellt die Hochgotik auch die dritte Phase der französischen Gotik, dem Gothique rayonnant, dar.

Die typischen Merkmale der zweiten gotischen Phase in Frankreich sind Basiliken, die keine Emporen mehr über den Seitenschiffen aufweisen, sondern Triforien oft als Zwerggalerien ausgearbeitet, besitzen sowie Säulen mit Diensten für Arkadenbögen, einen Chorumgang mit Kapellen und die Verwendung von vierfeldrigen Kreuzrippengewölbe haben.

Anhand der nachfolgenden Daten kann hervorragend abgelesen werden, dass die Kathedrale von Chartres bereits weitaus größer und eindrucksvoller als die von Saint-Denis errichtet wurde. Das Querschiff wurde verkleinert, die Höhe nahm jedoch kräftig zu. Chartres wies bereits eine verglaste Fläche von etwa 2600 m2 auf.

MerkmaleSaint-DenisChartres
Länge108 m130,20 m
Breite des Querschiffs39 m32,80 m
Höhe der Gewölbe29 m37,50 m
Höhe des Südturms58 m103 m
Höhe des Nordturms86 m*115 m
Verglaste Fläche2600 m²
*Der Nordturm von Saint-Denis ist heute abgerissen.

Die Gothique rayonnant

Die dritte gotische Epoche Frankreichs, die Gothique rayonnant, wird mit der Errichtung der Kathedrale von Amiens im Jahr 1220 eingeläutet. Die dritte Stilphase gilt als die strahlende Gotik. In dieser Zeitepoche ist bereits die oben beschriebene Intromissionstheorie von Aristoteles weit verbreitet. Die Fensterflächen nehmen stark zu. Sie sind zudem enorm vergrößert. Ebenso erhalten nun auch die Triforien Außenfenster.

Die Kathedrale von Amiens

Die Kathedrale von Amiens ist das größte Sakralgebäude Frankreichs, das aus dem Mittelalter erhalten geblieben ist. Seine Länge beträgt 145 m, seine innere Länge 133,50 m und die Länge des Querhauses 70 m. Die Höhe des Mittelschiffs überragt mit 42,30 m die von Chartres mit 37,50 m um knappe 5 m. Die Fläche beträgt 7700 m², das Raumvolumen 200.000 m³, das Doppelte von Notre-Dame de Paris.

Notre-Dame d’Amiens ist neben Notre-Dame de Chartres und Notre-Dame de Reims architekturgeschichtlich eine der drei klassischen Kathedralen der „Hochgotik“ in Frankreich des 13. Jahrhunderts.

Markant ist, dass nicht wie sonst üblich mit dem Ostchor beim Bau begonnen wurde, sondern hier mit dem Langhaus. Zudem wurde extrem weiter in die Höhe gebaut, wodurch sich ein Problem bei der Fassadengestaltung ergab. Die Königsgalerie musste unter die Fensterrose gelegt werden und nicht wie üblich über diese. Dies hatte zur Folge, dass ihr – so einige Kunstexperten – die Ausgeglichenheit fehlte, die später die Kathedrale von Reims aufwies. Die komplette Fassade ist mit Statuen und Krabben reich geschmückt. Dabei auffällig ist die am Trumeau, dem Mittelpfosten eines Portals, befindliche Figur „Vierge Dorée“, die zwischen 1235 und 1245 entstanden ist und eine neue Perspekte aufwirft. Zum ersten Mal wird hier die Zuneigung der Gottesmutter zu ihrem Kind gezeigt.

Die Gothique flamboyant

Die letzte Stilphase der französischen Gotik, die Gothique flamboyant, wird durch eine kreative Ausweitung des Formenspektrums und um die rechteckigen Fenster und Tore geschlungenen Kielbögen gekenntzeichnet. Als Initialbau der Gothique flamboyant gilt die als Schlosskapelle errichtete Sainte-Chapelle in Riom, die 1388 errichtet wurde. Sie beherbergt wie auch die Sainte-Chapelle in Paris, die 1240 als Bau begonnen wurde, farbige Glasfenster, sodass der Eindruck eines Glashauses entsteht, wenn auch weniger markant ausgeprägt wie in Paris.

Die nach Licht aufstrebende Architektur

Allen gotischen Kathedralen in Frankreich gemein ist also die nach Licht strebende Architektur. Dazu wurden Strebepfeiler außen und nicht innen angebracht, um den Lichtfluss des Innenraumes nicht zu stören. Immer mehr Wandmasse wurde verkleinert, um Platz für immer größer werdende Fenster zu machen. Die Fensterflächen nahmen zu, die Wandmassen hingegen ab. Farbige Glasfenster ersetzten zunehmend Fresken an den Wänden.

Der Kirchenschmuck, der sich normalerweise an den Innenräumen der Kirche befindet, wurde zunehmend nach außen platziert. So finden sich an vielen gotischen Kathedralen eine Vielzahl an Krabben und Figuren an der Fassade, reichgeschmückte Portale und Spitzbogenfenster sowie spitze schmale Türmchen.

Je mehr die Gotik also in ihrer Zeitepoche voranschritt, desto verzierter, schöner und reichhaltiger wurden die Außenwände und Portale der Kirchen bestückt, die Glasfenster nahmen an bunter Mannigfaltigkeit und Fläche zu und der Kirchenbau erlangte nie dagewesene Höchstmaße. Alles nur, um das Sonnenlicht, das von Gott gesendet und durch das Bunte der Farbfenster sichtbar gemacht wird, durch die Augen aufnehmen zu können, um so nach der vollkommenen Schönheit, dem Attribut Gottes, zu streben und die Seele unter dem Einfluss göttlicher Erleuchtung entfalten zu lassen.

Die Gotik in England

Die Gotik hat auch außerhalb der französischen Landesgrenzen im restlichen Europa nach und nach als Stilepoche eingesetzt. Die gotische Baukunst wird zuerst in England, das im 13. Jahrhundert mit Frankreich eng verbunden war, aufgenommen. Es entstanden fast ausschließlich dreischiffige Basiliken, die eher in die Länge gezogen wurden anstatt wie in Frankreich in die Höhe gebaut. Auffällig ist die enorme Westfassade, die bei vielen gotischen Bauten in England anzutreffen ist und ebenso der Vierungsturm, der häufig höher als die Haupttürme gebaut wurde.

Der Early English Style

Insgesamt weist die englische Gotik drei große Stilphasen auf, die allesamt an den Maßwerkfenstern abgelesen werden können. Der Early English Style (1175-1260) macht mit der Kathedrale von Canterbury, die häufig als erster gotischer Bau in England zitiert wird, den Anfang.

In dieser Zeit entwickelten sich neben dem Kreuzrippengewölbe noch kompliziertere Gewölbeformen wie dem Sterngewölbe. Dekorative Muster werden nun auch auf Rippen wie Scheitelrippen angebracht. Als bedeutendster Bau dieser Zeit gilt die Kathedrale in Salisbury, die etwa zur gleichen Zeit wie Amiens entstand, jedoch lang gezogen ohne das äußere skeletthafte Strebewerk errichtet wurde.

Der Grundriss besteht aus rechteckigen oder viereckigen Jochen. Polygonale Chorkapellen wie bei Chartres in Frankreich anzutreffen fehlen, ebenso der polygonale Chorumgang. Die inneren Geschosse wie Arkaden, Triforium und Obergaden sind durch die horizontalen Gesimse klar von einander getrennt.

Der Decorated Style

Im Decorated Style, der mit der Chorweihe von Westminster Abbey begann, werden die französischen Vorbilder nicht hundertprozentig umgesetzt, sondern vielmehr mit englischen traditionellen Elementen versehen. Neu sind zum Beispiel das Maßwerk in den beiden oberen Zonen sowie das Rosenfenster an beiden Querhausfronten. Statt dem Triforium wird eine Emporenzone eingeschoben. Die französische Fassadenarchitektur wird zwar aufgegriffen, aber komplett anders komponiert wie im Beispiel an der Kathedrale von Exeter zu sehen ist. Die drei Portale der Kathedrale sind in drei übereinanderliegende Figurenreihen eingebettet. Darüber erhebt sich ein die Fassade dominierendes enormes, die Idee der Rosette aufgreifendes Maßwerkfenster, das wiederum durch den breiten Giebel des Mittelschiffs bekrönt wird.

Der Perpendicular Style

Die King’s College Chapel in Cambridge, die 1446 begonnen wurde, ist im Perpendicular Style errichtet und weist Gewölbe auf, die sich aus vier Trichtergewölben zusammensetzen und komplett mit Maßwerk überzogen sind. Das Kreuzrippengewölbe wird hier ganz und gar durch Trichtergewölbe ersetzt. Durch diese Art der Gewölbearchitektur entsteht ein schwebender Eindruck, der auch durch die enormen Fenster an den Seitenwänden verstärkt wird.

Die Gotik in Deutschland

Im übrigen Europa entwickelten sich ebenso gotische Abwandlungen. Eines der bedeutendsten Beispiele gotischer Architektur in Deutschland ist der Kölner Dom, der 1248 begonnen wurde aber erst im 19. Jahrhundert vollendet. Er übertrifft in seiner Höhe seinen Vorbildern in Amiens und Beauvais, obwohl die Gewölbehöhe von Amiens zwar um wenige Meter übertrumpft wird aber nicht die von Beauvais. Das durchfensterte Triforium verschmilzt beim Kölner Dom mit den Obergaden, sodass aus dem dreiteiligen Wandaufriss ein zweiteiliger entsteht. Zudem ist der Kölner Dom fünfschiffig und nicht wie bei den klassischen französischen Kathedralen dreischiffig.

Im Norden Deutschlands entwickelte sich zudem ein weiterer eigener Stil der Gotik: Die Backsteingotik Norddeutschlands, die sich von der Backsteingotik Italiens abhebt. In Lübeck steht das wohl in Deutschlands beeindruckendste Beispiel einer Backsteinkirche der Gotik. Die Lübecker Marienkirche, die zwischen 1265 und 1351 errichtet wurde, weist zwar das Formenrepertoire der westlichen Kathedralgotik auf, wird aber mit den eigenen örtlichen Baumaterialen, dem roten Backstein, erbaut. Diese eigentümliche Form der Gotik breitet sich im gesamten Ostseegebiet aus.

Sind die englischen Gotikbauten, insbesondere im Perpendicular Style, häufig mit Figuren und Schnörkelungen an der Außenfassade übersät wie ebenso der Kölner Dom, so finden sich bei der Marienkirche in Lübeck nahezu keine Schnörkelungen, jedoch aber 125 m hohe Türme und ein etwa 70 m langes Mittelschiff mit kräftigen Strebebögen, die die Last der Schiffwände auf die imposanten Strebepfeiler ableiten.

Im Inneren übertrifft die Gewölbehöhe mit 39 m sogar noch die der französischen Kathedrale von Reims, obwohl die Seitenschiffe mit ihren 20 m Höhe nur halb so hoch sind. Durch die enormen Bündelpfeiler, die in den Obergaden aufsteigen und die sogar noch höher sind als die im Kölner Dom, das Triforium dadurch wegfällt und das Licht nur durch den oberen Teil der Fensterbögen durchscheint, entsteht ein zweizoniger Aufriss.

Die frühgotische französische Idee war es, das Innere durch Arkadenzone, Obergaden, Triforium und Emporenzone auszustatten. Im Verlauf der Gotik und durch den Drang zu immer höheren Kathedralen wurde die Emporenzone weggelassen. Dadurch konnte eine stets extremer werdende Vertikalisierung des Innenraumes der Kathedrale erreicht werden. Diese Vertikalisierung ist ebenso bei der Marienkirche in Lübeck sichtbar, nämlich durch die an den Pfeilern emporsteigenden schmalen Stäbe, die schließlich in den Gewölberippen fortgesetzt werden. Wandmalereien unterstützen die so aufkommende Eleganz, die durch die feinen Stäbe gebildet wird.

In Soest entstand 1313 neben vielen weiteren Beispielen und neben der Basilika ein weiterer Bautyp die Hallenkirche St. Maria zur Wiese, wenngleich die erste Hallenkirche nördlich der Alpen anscheinend um 1017 in Paderborn errichtet wurde. Der Hauptraum ist fast quadratisch (westfälisches Quadrat), wobei die Außenwände zugunsten des Lichteinfalls komplett durchbrochen sind. Die Gurten und Rippen der Pfeiler weisen keine Kapitelle auf, um eine optische Vertikalisierung des Raumes zu erreichen, auch wenn ein wenig anders als bei den Kathedralen. Es fehlen die Obergaden. Mittel- und Seitenschiffe haben die gleiche Höhe – ein wichtiges Merkmal der Hallenkirchen, die dadurch bedingt einen eigenen achitektonischen Typus neben der Basilika begründen. Überdacht sind Hallenkirchen entweder mit einem hohen Einheitsdach über den Schiffen oder aber mit einem Längsdach über dem Mittelschiff und Querdächer über den Querschiffen.

Die Gotik in Italien

Auch in Südeuropa entwickelten sich Hallenkirchen. Einige interessante und wichtige Beispiele von italienischen Hallenkirchen sind der dreischiffige Dom von Perugia, der San Lorenzo geweiht ist und eine schmucklose Fassade aufweist, die Basilica di San Giovanni in Canale in Piacenza aus dem 13. Jahrhundert, die wie viele der italienischen Hallenkirchen aus einem Kloster hervorging bzw. ihm angehörte sowie die Chiesa degli Eremitani in Padua aus dem Jahr 1276, die einen enormen Innenraum mit einer eindrucksvollen Holzdecke aufweist. Sie diente wie viele der Hallenkirchen als Klosterkirche.

Beispiel einer typischen Hallenkirche der Gotik: die Eremitani-Kirche in Padua
Beispiel einer typischen Hallenkirche der Gotik: die Eremitani-Kirche in Padua

Die monastische Architektur in Italien

Die monastische Architektur in Italien brachte ebenso die Kirche Santa Croce in Florenz hervor – ein imposanter Bau, der äußerlich nicht diesen Anschein weckt, jedoch im Inneren riesig erscheint. Neben vielen Grabmalen bekannter Persönlichkeiten wie Michelangelo, Galileo Galilei und Machiavelli sowie einem leeren Grab für Dante Alighieri (dieser ist in Ravenna begraben, da er aus politischen Gründen nicht mehr nach Florenz zurückkehren konnte und durfte und heute Florenz diesen Umstand ganz bitter bereut) wirkt die über die Galerie verlaufende Arkadenzone vor dem Querschiff ansteigend, so dass der Kirchenraum in östlicher Richtung höher erscheint.

Wichtige gotische Sakral- und Profanbauten

Italien brachte eine ganze Reihe eindrucksvoller Sakral- und Profanbauten in der Gotik hervor, wobei einige der imposantesten und wichtigsten der Dom von Orvieto, der Palazzo Ducale und die Santa Maria Gloriosa dei Frari in Venedig, der Dom von Siena, der Mailänder Dom sowie die Basilica di Sant’Antonio in Padua und die Basilika Santa Maria Novella in Florenz sind.

Gotische Portalornamente am Dom von Orvieto in Italien
Gotische Portalornamente am Dom von Orvieto in Italien
Portalschmuck am Dom von Orvieto
Portalschmuck am Dom von Orvieto

Der Fassadenaufbau war zweizonig

Im Gegensatz zu den französischen Kathedralen der Gotik haben italienischen Bauten einen klaren zweizonigen Aufbau der Fassade, die hervorragend bei der Basilika Sant’Antonio in Padua, beim Dom in Orvieto und auch beim Dom von Siena zu sehen ist. In der Regel werden die beiden Fassadenteile durch ein schmales Arkadenband optisch geteilt. Klare geometrische Formen sind dominierend, die den reichhaltigen Schmuck an der Fassade umgrenzen.

Basilika Sant'Antonio in Padua: Schön ist die zweigeteilte Fassade zu sehen
Basilika Sant’Antonio in Padua: Schön ist die zweigeteilte Fassade zu sehen

Markant ist die verringerte Plastizität

Markant ist die verringerte Plastizität der gotischen Fassaden in Italien trotz der Bedienung des französichen Formenrepertoires wie Wimperge, Fialen, Spitzbogen und Skulpturenfries. Die italienischen Fassaden wirken eher zweidimensional ähnlich Architekturzeichnungen französischer Provenienz.

Die gotische Malerei in Italien

Die gotische Malerei fokussierte sich nördlich der Alpen insbesondere auf die Glasmalerei. Es entstanden riesige bunte Glasfenster. Fresken hingegen verschwanden immer mehr mit der zunehmenden Verglasung von Kirchenbauten. Italien hingegen nahm eine Sonderstellung ein. Hier enthielten Kirchenbauten und Profanbauten weiterhin große Wandflächen, die durch Fresken bemalt wurden.

Giotto di Bondone

Eine zunehmende Verglasung wie in Frankreich trat in Italien nicht ein. Allerdings trat die Malerei der Gotik in Italien erst mit einer Zeitverzögerung von etwa drei bis vier Jahrzehnten ein. Mit als wichtigster Vertreter der Gotik gilt Giotto di Bondone, der auf einem Werk seines Meisters Cimabue eine Fliege täuschend echt gemalt haben soll, sodass Cimabue versuchte, einige Male wegzuwischen, ehe er bemerkte, dass es sich hierbei um eine Täuschung handelt.

Giotto bereitete die Renaissance vor, in der die Maler der Gotik allmählich die Kluft zwischen der Kunst der Bildhauer schließen konnten. Die Bildhauer hatten zur Zeit der Gotik bereits eine enorme Ausdruckskraft, Naturalistik und Lebendigkeit ihrer Werke erzielt, wobei die Malerei hier noch hinterher hinkte. Giotto war einer der ersten Künstler, der die Perspektive einleitete und Nischen vortäuschte (Trompe-l’œil), in denen oft allegorische Figuren abgebildet wurden. Von dieser Technik beeinflusst wurden später die Künstler Masaccio und Michelangelo aus der Renaissance.

Wichtige Themen der Malerei in der Gotik

Die wichtigsten Themen der Malerei in der Gotik waren religiöse Darstellungen, insbesondere in Mittelitalien, wobei hier seit der Romanik bemalte Tafeln übernommen wurden. Hinzu kamen in der Gotik zudem geformte oft am Ende der Kirchenschiffe aufgehängte Kruzifixe, Madonnen mit Kind, oftmals gut sichtbar mit einer ausgeprägten Mutter-Kind-Beziehung, die die Religion menschlicher werden lässt und Darstellungen von Heiligen, oft in Zusammenhang mit dem Heiligen Franz von Assisi.

Zu sehen ist das Polyptychon der Badia von Giotto, das um 1301 entstanden ist
Zu sehen ist das Polyptychon der Badia von Giotto, das um 1301 entstanden ist

Italienische Vertreter der Gotik

Zu den italienischen Meistern der Gotik und des 13. Jahrhunderts gehören zweifelsohne Giunta Pisano, der an die Grenzen des byzantinischen Stils gelangte und dadurch einen eigenen Stil erfand, der wiederum von Cimabue weiterentwickelt wurde. Giorgio Vasari schrieb diesbezüglich, dass Cimabue der erste Maler war, der sich von der „dummen und plumpen und gewöhnlichen […] griechischen Art“ entfernte.

Giotto krönte die sich anbahnenden Neuerungen durch seine Fresken in der Scrovegni-Kapelle in Padua sowie auch in der Oberen Basilika von Assisi. Durch ihn wurde ein neuer moderner westlicher Stil geprägt.

Neben der giottesischen Schule mit Giottino, Taddeo Gaddi und Maso di Banco, erlangte auch die sienesische Schule mit Duccio di Buoninsegna, Simone Martini, Pietro und Ambrogio Lorenzetti an Bedeutung, aber auch die römische Schule mit Pietro Cavallini und Jacopo.

Die Malerei wurde immer lebendiger. Mit der Einkehr von gemalten realitätsnahen Gesichtszügen, einer immer stärker werdenden Natürlichkeit, Gefühlsdarstellungen und wirklichkeitsgetreuen Darstellungen wird nach der Gotik die Renaissance in Italien eingeleitet.